„Wenn eure Großeltern sagen, sie wussten nichts, dann ist das eine Lüge. Alle wussten es.“
Bericht über den Besuch der Zeitzeugin Drin Lucia Heilman:
Lucia Heilman ist eine österreichische Überlebende des NS-Regimes und Ärztin. Am 2. Mai war sie zu Besuch am Musikgymnasium Feldkirch und sprach mit den Schüler_innen über ihre Geschichte, den Nationalsozialismus und den bis heute spürbaren Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Johanna Teufel berichtet von einem nachdenklich stimmenden Gespräch.
Am 2. Mai hatten wir das Glück, gemeinsam mit der 7.,8. und 9. Klasse des Musikgymnasiums Feldkirch zwei Stunden mit der Zeitzeugin Lucia Heilman zu verbringen. Diese Begegnung war nicht nur sehr spannend und interessant, sondern vor allem eine erneute schockierende Erfahrung darüber, in welch unmenschliche Situationen Menschen andere Menschen bringen können.
Lucia Heilman wurde 1929 in Wien geboren. Die nun 86-Jährige ist eine von den wenigen jüdischen Überlebenden des NS-Regimes in Österreich. Einer von den nur 104 „Gerechten unter den Völkern“ in Österreich, Reinhold Duschka, war ein Freund ihres Vaters und versteckte sie und ihre Mutter in einem Verschlag in seiner eigenen Metallwerkstatt im 6. Bezirk in Wien.
„Deshalb ist es den Nachbarskindern auch nicht aufgefallen, dass ich weg war. Es war ganz normal: jüdische Wohnungen wurden einfach von Nazis übernommen.“
Frau Heilman erzählte uns, wie 1941 die Abtransporte jüdischer Familien in die KZ’s begannen. Schon Monate vorher kam ein junges Ehepaar in die Wohnung der Familie in Wien zu Besuch, dem Ehepaar gefiel die Wohnung und obwohl sie jahrelang immer ihre Miete bezahlten, wurde die Familie gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen und in eine jüdische Sammelwohnung zu ziehen. „Deshalb ist es den Nachbarskindern auch nicht aufgefallen, dass ich weg war. Es war ganz normal: jüdische Wohnungen wurden einfach von Nazis übernommen.“
Lucia Heilman hat mit ihren 10 Jahren einige dieser Abtransporte selbst gesehen. Den ihrer besten Freundin Erna zum Beispiel: eines Morgens wurde ein Lastwagen voll mit Menschen geladen. So voll, dass ihre um 2 Jahre ältere beste Freundin von dem Lastwagen herunterfiel, und der Fahrer, ohne jeglichen Widerstand der zusehenden Menge, schonungslos über das Mädchen fuhr. Sie kam mit Verletzungen davon und wurde später in Auschwitz ermordet. Diese menschenunwürdigen Abtransporte waren eine alltägliche Realität. „Das war keine Nacht- und Nebelaktion. Am helllichten Tag haben sie die jüdische Bevölkerung einfach in Transporter gestopft. Alle konnten zusehen, Menschen waren auf den Straßen, alle wussten davon. Wenn eure Großeltern sagen, sie wussten nichts, dann ist das eine Lüge. Alle wussten es.“
Lucia und ihre Mutter wurden zum Glück früh genug in ihrem Versteck untergebracht. Sie durften mit niemandem darüber reden. Alle Beteiligten standen unter höchster Lebensgefahr.
Doch wer denkt, dass sie nun „gerettet“ waren, liegt falsch. Vier Jahre verbracht Lucia alleine mit ihrer Mutter in dem Versteck, ohne menschlichen Kontakt, Schule, Spielen oder irgendeiner Möglichkeit zur körperlichen Betätigung. Im November 1944 wurde die Werkstatt, in der sie sich versteckten, von Phosphorbomben zerstört. Trotz der Angst ihrer Mutter das Versteck zu verlassen, flüchteten sie noch früh genug in den Keller. Dort waren alle in einem solchen Angstzustand, dass niemand nach ihrer Identität fragte. Reinhold Duschka organisierte dann ein neues Versteck für sie. Sie kamen in einem Keller unter einem Geschäft unter. Ihre Mutter erzählte Lucia später, dass sie während ihres sechsmonatigen Kelleraufenthaltes aufgehört habe zu sprechen. Der Keller war kalt, feucht, einsam, modrig und angsteinflößend.
„Umso mehr mich die Lehrpersonen hassten, um so lieber war meine Klasse zu mir.“
Sie berichtete uns auch, wie sie die Nachkriegszeit erlebte. Denn nachdem sie das Versteck verließen, konnten sie nicht wieder in ein „normales“ Leben zurück. Antisemitismus bekommt sie bis heute zu spüren. Als Frau, die oft ihre Geschichte erzählt, ist Frau Heilman immer wieder Antisemitismus ausgesetzt und erhält Hassbriefe, die den Holocaust leugnen und sie als Jüdin zutiefst beleidigen. Bei dem Versuch über Polizei und Verfassungsschutz Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wurde sie zurückgewiesen. Auch der Schuleinstieg als Jugendliche war nicht leicht. Ihr fehlten immerhin einige Schuljahre und Schüler_innen sowie Lehrpersonen akzeptierten die Tatsache, dass eine jüdische Schülerin in der Schule sitzt, nicht einfach. Doch: „Umso mehr mich die Lehrpersonen hassten, um so lieber war meine Klasse zu mir.“
Frau Heilman war es wichtig, uns die Chance zu geben, ihr Fragen zu stellen. So erfuhren wir, dass sie nach ihrem Schulabschluss Medizin studierte und nach der Geburt ihrer Kinder als Schulärztin in Wien tätig war. Heute ist sie bereits Großmutter und ihr ist es wichtig, ihre Erfahrungen weiterzugeben.
In der Klasse war es die ganze Zeit so leise, wie es in der Schule sonst wohl selten ist. Alle lauschten gespannt und gleichzeitig schockiert ihren Erzählungen. Nach langem Applaus erklärte sie uns, dass sie ihren Vortrag so nicht beenden könnte und erzählte uns, wie sie nach ihrer Pensionierung mit ihrer Geschichte im Rahmen von Auftritten in der Vorstellung „Die letzten Zeugen“ ein Star im Wiener Burgtheater wurde und immer wieder junge Menschen darauf hinweisen kann, wie wichtig es ist, für Gerechtigkeit zu kämpfen.