22. November 2015
Geschrieben von

Class Matters

#Archivsonntag: Ausgabe 58 / 2014

Der Begriff „Klassismus“ ist im deutschsprachigen Raum kaum geläufig, obwohl es dabei um eine grundlegende Form der Diskriminierung geht, die hingegen sehr verbreitet ist. Das Problem des Klassismus muss wieder benannt und ausgesprochen werden!

Ich war letztens in der Bibliothek. Eines der Bücher, das ich mir nach kurzem Beäugen ausgeborgt habe, war ein Sammelband zu Popfeminismus. Hot Topic. Vor ein paar Jahren wurde das Buch ziemlich gehypet, ich habe es bis dato jedoch nicht in die Hände bekommen. Unter anderem hat auch Christiane Rösinger, die Queen des intellektuellen deutschen Pop, einen Text beigesteuert. Er ist sehr humorvoll, ich mag ihre Ironie und zwischen all den halb-ernst gemeinten Sätzen sticht dann einer hervor: Wir sollten und wieder Klassenfragen zuwenden. Sie behält Recht. Und ist damit ziemlich allein.

Der Begriff der Klasse

Um sich aber Klassenfragen zuwenden zu können, müsste die Frage geklärt sein, was eine Klasse überhaupt ist. Und dabei ist man sich alles andere als einig. Unter Marxist_innen herrscht die Meinung vor, die Gesellschaft sei in zwei Klassen zu unterteilen, in das Proletariat und die Bourgeoisie, die Unterdrückten und die Herrschenden. Für Karl Marx, den Begründer dieser Theorie, leitet sich die Zugehörigkeit zu einer Klasse ausschließlich aus der ökonomischen Position ab. Eine Klassengesellschaft abzuschaffen sei nur durch eine Revolution des Proletariats gegen den Kapitalismus möglich. Max Weber, ein Soziologe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sah die Gesellschaft bereits mit anderen Augen. Er führte den Begriff der Mittelklasse in den Diskurs ein. Wichtig war für ihn die Erkenntnis, dass Klassen zwar auf ökonomische Unterschiede zurückzuführen sind, jedoch auch als gesellschaftsregulierende Konstrukte agieren, die mit einer bestimmten Sozialisierung verbunden sind. Klassen-, Schichten- und Gesellschaftsmodelle gibt es wie Sand am Meer. Von der Bolte-Zwiebel bis zum Dahrendorfhäuschen; es wurde nicht an Metaphern gespart, um die Gesellschaft möglichst umfassend zu erklären. In den letzten zwei Jahrzehnten gewannen vorlaute Stimmen, die die bereits eingetroffene Auflösung der Klassengesellschaft verkündeten, immer mehr an Gehör. Auffallend ist hierbei jedoch, dass diese Stimmen wohl selbst eher aus privilegierten, elitären, bürgerlichen Schichten stammen.

Das verdrängte Wort: Klassismus

Für die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft gibt es einen Begriff. Er nennt sich Klassismus. In den USA ist dieser Begriff classism wichtiger Bestandteil in Antidiskriminierungsbewegungen, hier im deutschsprachigen Raum ist er so unbekannt, dass meine Autokorrektur ihn andauernd auf Klassizismus ausbessern will. Klassismus ist jedoch keine Kunstrichtung, die irgendwo bei Biedermeier und Romantik zu verorten ist. Nach Andreas Kemper, einem der wenigen europäischen Theoretiker_innen, die sich mit Klassismus auseinandersetzen, kann man Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft nicht nur auf die ökonomische Situation zurückführen. Diese These wird mitunter von orthodoxen Marxist_innen stark kritisiert. Benachteiligung, die auf der Herkunft einer „niederen“ Klasse basiert, zeigt sich auf unterschiedliche Weisen. Am stärksten in der massiven Schere zwischen Arm und Reich, aber auch auf anderen (institutionalisierten) Ebenen wie einer elitären Bildungs- oder Familienpolitik. Nicht zu vergessen, und das ist für Kemper ausschlaggebend, sind jedoch auch naturalisierte Bilder von Armen, (Lohn-)Arbeiter_innen, Besitzlosen etc., die als sozial und kulturell wertlos diffamiert werden.

Wichtig für die Antiklassismus-Bewegung waren amerikanische Feministinnen, wie bell hooks oder das Aktivistinnenkollektiv die Furies, die sich Mitte der 70er Jahre von der überwiegenden weißen, heterosexuellen und bürgerlichen Frauenbewegung nicht vertreten fühlten. Sie erkannten, dass sie aus weit mehr Gründen als nur ihrem Frau*-sein, diskriminiert wurden. Kriterien wie of-color-sein, Nicht-Heterosexualität oder die Zugehörigkeit zu einer „niederen“ Klasse beeinflusst ihre Erfahrungen mit Diskriminierung und schlussendlich ihren Status in der Gesellschaft beträchtlich. Unterschiedliche diskriminierungsformen können sich überschneiden und bestärken. Man spricht hier von Intersektionalität, von Mehrfachdiskriminierung. Auch die Antiklassismus-Bewegung kommt nicht ohne eine gehörige Portion Feminismus aus. Durch bell hooks und the Furies kamen medial überpräsente Bilder der „Unterschicht“ das erste Mal ins Kreuzfeuer der Kritik.
Geistes- und sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Antiklassismusdebatte, die unweigerlich mit einer Diskussion über Intersektionalität einhergeht, sind meistens von Autor_innen aus der USA verfasst worden. Es ist schwierig, das bereits breite Felder der theoretischen Ansätze aber auch des politischen Handelns auf Europa umzumünzen, da Begriffe wie Klasse, soziale Mobilität aber auch race aus sehr differenten historischen Blickwickeln zu betrachten sind. Nur wenige haben in Europa der 70er Jahre auf die aus den USA stammende Kritik am Klassismus reagiert oder sich ihr gar angeschlossen. Eine der wenigen, die das doch getan hat war Anja Meulenbelt, eine niederländische Sozialarbeiterin. Sie wurde durch die Frauen*bewegung politisiert und war im Bezug auf Klasse mit einer ähnlichen Situation konfrontiert wie the Furies. Sie verfasste ab den frühen 80er Jahren einige Essays und Bücher, die sich mit Klassismus auseinandersetzen. Dass ihre Arbeit wenig bis gar nicht, und wenn dann meist nicht in Bezug auf Klassismus, rezensiert wurde, hält bis heute an.

Das Problem mit dem „Assi-TV“

Zur „Unterschicht“ hat man ja meist ein sehr klares Bild im Kopf. Kleine, dreckige Wohnungen mit speckigen Ledersofas und sonstigen hässlichen Möbeln, die kinderreiche Familien beherbergen, welche weder die Grammatik beherrschen, noch Bildungsinstitutionen besuchen um sie zu erlernen und die aggressiv miteinander umgehen. Dieses Bild ist salonfähig geworden. Die Zeit schrieb bereits 2010 über den „produzierten Proleten“ über „Assi-TV“ als „Sozial-Porno“ oder „Reality-Show“ so als würden Saturday Night Fever und Co. kollektiv Lebensrealitäten darstellen. In der Talk-Show britt wurden ökonomisch schwächere Personen vorgeführt wie hinterwäldlerische, überpotente Neandertaler_innen, die von Britt und dem Publikum zurechtgewiesen aber mitunter auch beschimpft wurden. Das Wort „Unterschichtsfernsehen“ hat es bereits geschafft ein breites Feld an Assoziationen hervorzurufen.

Angesichts der Darstellung Armer in den Medien ist es nicht verwunderlich, dass inzwischen ein Drittel aller österreichischen Schüler_innen der Meinung ist, dass Armut selbstverschuldet sei.
Deutsche Politiker_innen aus der FDP ließen unter dem Titel „In Deutschland bekommen die Falschen als Kinder“ bereits Vorschläge von sich, die die Zeugungsbereitschaft von Akademiker_innen mit gezielter Förderung erhöhen sollte. Damit soll die vermeintlich vererbte Intelligenz und Intellektualität – an der Stelle zeigt sich wohl eine naturalisierte Form von Klassismus – wieder auf Vorderfrau gebracht werden. Politik, die auf einer elitären, bürgerlichen Ebene geführt wird, hat eine lange Tradition. Das kann durch bürgerliche-konservative Parteien, wie den englischen Torys (mit ihrer Gallonsfigur Margret Thatcher), die deutsche CDU oder die ÖVP, aber auch durch vergleichbar „junge“ Parteien, wie die FDP oder die Neos geschehen. Ganz abgesehen davon, dass sie als starke Vertretungen für die ökonomische Vormachtstellung bestimmter Schichten fungierten, reproduzieren sie das Bild einer durch den Staat legitimierten sozialen Differenz immer wieder aufs Neue.

Die angeführten Beispiele spiegeln nur zu gut wieder, dass die Zugehörigkeit zu einer Klasse immer noch eine gehörige Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Oder, um es mit bell hooks zu sagen: Class matters.

Syntax Foto: Syntax