8. Oktober 2023
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Schule ohne Prüfungen – unvorstellbar

Im Alltag spüren Schüler_innen Covid-19 mittlerweile nur mehr selten. Klar, hin und wieder hat ein_e Klassenkolleg_in Corona, aber monatelangen Distance-Learning-Phasen gibt es nicht mehr. Doch die Auswirkungen der Pandemie bleiben. Auf die psychische Gesundheit, das soziale Umfeld von Schüler_innen und vielem mehr. Aber es wurde auch ein Momentum geschaffen: Einen anderen Umgang mit Prüfungen in der Schule.

In den letzten Jahren gab es etwas, das im österreichischen Bildungssystem zuvor unvorstellbar war: Aufgrund der besonderen Situation mit dem Covid-19 Virus und dem monatelangen Distance-Learning wurden 2020 in einigen Fächern Schularbeiten und Tests ausgesetzt. Was zuvor immer als unmöglich beschrieben wurde, war plötzlich möglich: Eine Bewertung, die nicht auf Schularbeiten und Tests basiert, sondern auf der Erbringung von Arbeiten und Mitarbeit. Dass das in der Ausgestaltung nicht optimal war, muss klar sein. Schule wurde während der Corona-Maßnahmen noch schwerer zugänglich gemacht und schulischer Erfolg war so stark wie vermutlich nie zuvor von den finanziellen und akademischen Ressourcen der Erziehungsberechtigten abhängig. Dennoch war die Aussetzung der schriftlichen Leistungsüberprüfungen ein Schritt in die richtige Richtung, der aber leider wieder aufgegeben wurde.

Insgesamt lenkte die Corona-Zeit verstärkte Aufmerksamkeit auf das Schulsystem und wirkte wie ein Brennglas für bereits bestehende Probleme. Das Verständnis von Bildung des ehemaligen Bildungsminister Heinz Faßmann sowie des aktuellen Bildungsminister Martin Polaschek wurde dabei offensichtlich:

„Mir war das Öffnen der Schulen ein tiefes Anliegen, damit es nicht zu einem Humankapitalverlust großen Ausmaßes kommt.“, so äußerte sich der damalige Bildungsminister Heinz Faßmann im Ö1-Morgenjounal, um damit den Stellenwert von Schulöffnungen für Kapitalinteressen zu thematisieren. Er verstand Schulöffnungen nicht als wichtiges Mittel, um Jugendlichen wieder die Möglichkeit zu geben, ihre Schulfreund_innen zu sehen, einen geregelten Tagesrythmus zu haben oder allen – unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status – eine Chance auf gerechte Bildung zu eröffnen sondern es als Mittel, dem Schwund von wirtschaftlich verwertbaren Fähigkeiten entgegen zu wirken. Schule soll nur noch ausbilden – möglichst schnell, ohne Umwege und ohne das Eingehen auf die Interessen und besonderen Begabungen der Schüler_innen.

Auch Martin Polaschek zeigte sich im Schuljahr 2021/22 von einer ähnlichen Seite: So erklärte er, dass Maturant_innen, die sich in stationärer Behandlung befinden, eine Maturaprüfung vom Spital aus ablegen könnten, sofern das organisatorisch möglich sei. Auch hier wird die Rolle der Schule als e Ort, der Bildung übersehen.

Insgesamt zeigen die ständigen Wechsel der Vorgaben und Richtlinien zur Leistungsbeurteilung und insbesondere zur Matura die Beliebigkeit auf, mit der von politischer Seite mit Themen umgegangen wurde, die für Jugendliche weichenstellenden, ja nahezu lebensbestimmend sind.

Die „Corona“-Schuljahre waren für Schüler_innen, aber auch für alle anderen Schulpartner_innen, geprägt von Unsicherheit, stetig neuen, spontan erlassenen Regelungen, Distance-Learning, dass nicht genügend aufbereitet worden war oder für das vielen Schüler_innen die notwendigen technischen und räumlichen Ressourcen fehlten, wie ein ruhiger Lernraum, W-LAN oder digitale Endgeräte. Die daraus resultierenden Probleme spiegeln sich auch in den Studien zur mentalen Gesundheit von Jugendlichen wider: Laut dieser zeigten 56 Prozent der Über-14-Jährigen eine depressive Symptomatik, die Hälfte zeigt Angstsymptome. Ebenso hatten 16 Prozent regelmäßig suizidale Gedanken. Während die neuen Corona-Regelungen für viele unzulänglich waren, zeichneten andere, – darunter auch bekannte Politiker_innen – das Narrativ von Schüler_innen, die faul wären und die die aktuelle Situation ausnutzen würden.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich ein seltsamer Beigeschmack, wenn dringend notwendige Regelungen als großzügige Erleichterungen kommuniziert wurden. Während Corona gab es nie echte Erleichterungen für Schüler_innen, es gab immer nur Anpassungen für die jeweils aktuelle Situation!

Eine Chronologie der Beliebigkeit

Leistungsfeststellungen in Zeiten von Corona wurden oftmals stark verändert. Es wurden Schularbeiten gestrichen, Maturaprüfungen angepasst und das Aufsteigen von einer Klasse in die nächste erleichtert.

Die schriftliche Reifeprüfung der Matura wurde 2020 zunächst verschoben die mündliche Matura auf freiwilliger Basis abgehalten. Die Abschlussnote des jeweiligen Faches konnte ersatzweise ins Maturazeugnis eingetragen werden. Wurde die mündliche Matura trotzdem absolviert, so wurde dies im Zeugnis vermerkt. Ebenso entfielen die ausstehenden Präsentationen der Vorwissenschaftlichen Arbeiten, Diplom- und Abschlussarbeiten. Es mussten lediglich drei Fächer maturiert werden. Die Note der schriftlichen Maturaklausur zählte nur 50%, die andere Hälfte ergab sich aus der Jahresnote.

Währenddessen ging das Distance-Learning für alle Schüler_innen, die nicht maturierten, weiter. Im Schuljahr 2019/20 entfielen alle ausstehenden Tests und Schularbeiten. Ebenso wurde es ermöglicht, dass Schüler_innen mit einem Nicht-Genügend im Jahreszeugnis aufsteigen konnten – auch ohne Genehmigung der Schulkonferenz.

Auch das darauf folgende Schuljahr 2020/21 war geprägt von Distance-Learning für die Sekundarstufe II. Jedoch wurden Schüler_innen unter bestimmten Vorrausetzungen aus dem Distance-Learning zurück geholt, um Präsenzschularbeiten zu schreiben –  obwohl es einen bundesweiten Lockdown gab. Die mündliche Matura blieb 2020/21 auf einer freiwilligen Basis und es wurde die 30/50/50-Regelung eingeführt. Bei dieser setzt sich die Note des Maturazeugnisses wieder aus 50 Prozent der schriftlichen Reifeprüfungsnote und 50 Prozent der Note des Jahreszeugnisses zusammen, wobei aber zumindest 30 Prozent der möglichen Punkte bei der schriftlichen Reifeprüfung erreicht werden mussten. Die Präsentation und Diskussion der vorwissenschaftlichen Arbeiten sowie der Diplomarbeiten und der Abschlussarbeiten blieb freiwillig.

Im Schuljahr 2021/22 gab es keine zusätzlichen Regelungen mehr. Die mündliche Matura wurde wieder verpflichtend. Lediglich die Dauer der Klausurarbeiten bei der schriftlichen Matura wurde um 60 Minuten verlängert, die 30/50/50-Regelung blieb bestehen. Ebenso wurde die Anzahl der Themenbereiche bei der mündlichen Prüfungsgebiete für die AHS eingeschränkt.

Selbstorganisation und Kritik von Schüler_innen

Schüler_innen waren mit den Anpassungen der schriftlichen Leistungsfeststellungen und der Matura in den letzten Jahren weitgehend unzufrieden. Viele organisierten sich und protestierten gegen die Maßnahmen der Bundesregierung. Die Kommunikation über die notwendigen Anpassungen ließ zu wünschen übrig. Es gab Momente, in denen Schüler_innen gemeinsam mit ihren Lehrer_innen in den Klassenräumen saßen, die Pressekonferenzen von Bundesregierungen ansahen und zeitgleich mit der Öffentlichkeit am Freitagvormittag erfuhren, dass die Schule am darauffolgenden Montag erneut schließen würde. Momente, in denen die notwendigen Anpassungen als Geschenke für Schüler_innen kommuniziert wurden und vor allem auch Momente, in denen vergessen wurde, welche Auswirkungen das Distance-Learning auf Schüler_innen hat: fehlender Kontakt zu Freund_innen, eine unerwartete Situation und extrem viel Leistungsdruck. Auch wurde vergessen, dass das Distance-Learning nicht für alle gleich ist. Während die einen daheim ein eigenes Zimmer, W-LAN und ein digitales Endgerät haben sowie Eltern, die sie bei ihren Schulaufgaben unterstützen konnten, mussten die anderen sich ein digitales Endgerät unter Geschwistern teilen, hatten kein eigenes Zimmer, mussten Reproduktions- und Hausarbeit für ihre Angehörigen leisten und hatten finanzielle sowie gesundheitliche Sorgen.

In den Schuljahren 2019/20 und 2020/21 veröffentlichten Schüler_innen Petitionen und offene Briefe, die stärkere Anpassungen oder die Durchschnittsmatura forderten. Die Durchschnittsmatura ist eine Matura ohne Prüfungen, die sich aus den Semester- und Jahresnoten der letzten zwei oder vier Semester zusammensetzt. Im Schuljahr 2021/22, als der neue Bildungsminister Martin Polaschek verkündete, dass die mündliche Matura wieder verpflichtend werde, streikten Schüler_innen, um auf den Ernst der Lage aufmerksam zu machen.

So schlimm kann’s doch nicht sein: Die Maturanoten waren doch gut!

Nach der Veröffentlichung der Maturaergebnisse zeigten sich sowohl Politiker_innen, als auch Medien in allen Corona-Jahren erfreut: Die Ergebnisse der Maturaprüfungen waren besser als in den Jahren zuvor, die Anpassungen hätten gewirkt und seien gerecht gewesen. Vergessen wurde hier jedoch, wie es der Schüler_innenschaft während und vor der Matura ging. Das Ergebnis der Maturanote kann und sollte nicht der alleinige Indikator für den Erfolg von Anpassungen sein. Maturant_innen meldeten sich zu Wort, um zu zeigen, wie belastend diese Situation war. Oft kam als Reaktion, dass Leistungsdruck rund um die Matura, egal zu welcher Zeit maturiert werde, eben dazugehöre. Ob Druck und mentale Belastungen notwendigerweise zu einem erfolgreichen Schulabschluss gehören, bleibt fraglich. Die geringfügigen Anpassungen zu manchen Zeiten der Corona-Maßnahmen zeigten eher eine andere mögliche Richtung auf.

 

 

 

 

 

 

 

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