Wertigkeiten
Eine Kurzgeschichte von Samuel Rhomberg.
"Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie ist nicht besonders lang, aber dennoch oder vielleicht gerade deswegen will ich sie erzählen. Dazu müssten Sie aber gut zuhören, ich schlage vor Sie lehnen sich zurück und entspannen sich.
Bereit?"
Die Lichter des Saales waren trüb geworden, als unser Protagonist ihn betrat. Schlichtes, mattes Weiß ging von den Lampen aus, die sich über den Treppen befanden. Der ganze Saal, der normalerweise als Theater verwendet wurde, war für diesen Auftritt in schlichtes Schwarz gekleidet worden. Das Publikum, welches sich langsam auf den Plätzen versammelte, war allerdings nicht für einen Theaterbesuch gekleidet. Tatsächlich wäre das auch unangebracht gewesen. Unser Protagonist, der selbst in gewöhnlicher Alltagskleidung gekommen war, setzte sich auf seinen Platz: achte Reihe Sitz 26. Er musste sich durch die Sitzreihen hindurch drängeln, da er schon recht spät gekommen war. Tatsächlich gingen die Lichter endgültig aus, als er sich auf den Platz setzte.
Stille kehrte langsam ein, das Gemurmel der Leute wurde leiser und leiser bis es endgültig erstarb. Gespannt blickten alle auf die Bühne, die noch von einem schmalen Ring aus Licht erleuchtet wurde.
Dann war es soweit.
Eine Tür öffnete sich, Schritte hallten in dem Saal wieder. Als die Referentin sprechen wollte wurde sie von jähem Applaus unterbrochen. Das Licht rund um die Bühne war heller geworden und schien auf eine junge kurzhaarige Frau, die den Applaus stillschweigend lächelnd entgegennahm.
Als er schließlich verebbte, erhob sie ihre feinklingende Stimme erneut:
„Sehr geeherte Damen und Herren! Gleich zu Beginn meines Vortrags möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wer ist der oder die Beste unter Ihnen?“
Sie blickte in die Runde.
Wie viele andere war auch unser Protagonist überrascht von der Frage. Er hatte zwar nicht genau gewusst was er hätte erwarten sollen, aber so etwas ganz sicher nicht.
Unser Protagonist hatte keine Zeit darüber zu grübeln, die Frau sprach weiter. In ihrer Stimme lag ein ernster, fester Klang.
„Sind Sie es, da in der ersten Reihe? Oder doch Sie da hinten? Was glauben Sie woran könnte man das denn überhaupt festmachen?“
Sie lächelte und hob beschwichtigend eine Hand. Ein kurzes Blitzen ließ einen Ring auf ihrem kleinen Finger erkennen.
„Ich weiß, was Sie sagen wollen. Wie soll man den eine Managerin, und sicherlich ist eine Managerin heute hier, mit einem einfachen Stahlarbeiter vergleichen?“
Sie machte eine ausschweifende Bewegung, bevor sie weitersprach und begann sich auf der Bühne auf und ab zu bewegen.
„Gar nicht. Menschen kann man doch nicht in Ranglisten ordnen. Dazu sind wir zu verschieden. Dazu ist das „Gut sein“ zu unterschiedlich definiert. Ich sehe ein allgemeines Nicken, wenn ich hier in die Runde blicke, daraus schließe ich, dass Sie mir zustimmen.
Menschen können nicht wirklich miteinander verglichen werden, ihre Leistungen vielleicht, aber dazu kommen wir noch.
Wie würden Sie aber reagieren, wenn ich sage, dass hier, in Österreich sehr viele Menschen ständig miteinander verglichen werden?
Schockiert? Fassungslos? Oder ist es Ihnen egal?“
Sie machte eine Pause und ging langsam vom einen Ende der Bühne zum anderen.
„Schülerinnen und Schüler sind täglich Vergleichen und Bewertungen ausgesetzt!“
Sie starrte in die Runde.
Die Runde starrte zurück.
Die Referentin nickte wissend.
„Ja, ich rede von Noten. Sagen sie mir doch einmal, was ist eine Note?“
Unser Protagonist machte ein verdattertes Gesicht. Er für seinen Teil war froh aus der Schulzeit heraus zu sein, nicht zuletzt wegen der endlosen Bewertung. Aber diese Frage hatte er sich noch nie gestellt.
„Ist sie ein Indikator für unser Wissen? Nein.“
Das letzte Wort spuckte sie schon fast aus, so als wäre sie wütend geworden. Wahrscheinlich war sie es auch.
„Ist sie Wertschätzend?“ Sie musste fast lachen. „Nein.“
Die Rednerin ging weiter über die Bühne und rief laut aus:
„Sind Noten denn wenigsten fair?“
Vermutlich ließ sie die Frage bewusst unbeantwortet.
„Entweder man berücksichtigt bei einer Note alle Faktoren, denn dann wäre es zumindest fair!“
Ihre Stimme wurde während sie sprach immer lauter.
Dann wurde sie wieder leiser.
„Alle Faktoren allerdings wären viel zu viele, also müssen wir vereinfachen. Ich meine, stellen sie sich ein Zeugnis vor, in dem bei jedem Fach noch zwanzig Unterpunkte sind, das würde niemand lesen, was möglicherweise nicht einmal so schlecht wäre. Also muss das Ganze vereinfacht werden. Und das hat wird auch gemacht, mein verehrtes Publikum. Sehr stark sogar.“
Sie schwieg kurz und ließ ihren Worten Stille folgen.
„Deswegen sind Noten auch nicht fair. Deswegen frage ich Sie.“
Sie richtete ihren Blick auf einen jungen Mann in der vierten Reihe. Mit lauter Stimme stellte sie ihre Fragen:
„Wann haben wir uns einreden lassen, dass Noten unsere Intelligenz wiederspiegeln?
Wann haben wir zugelassen, dass Leistung zu unserem Antrieb wird?
Wann sind wir so geworden? Was hat uns so beeinflusst?“
Sie hatte einen schönen Verlauf in ihrer Stimme, zu Beginn war sie sehr laut und wütend, gegen Ende wurde sie fester und entschlossener.
Nüchtern und überlegt fuhr sie fort:
„Nun gut. Vielleicht ist es eine Utopie zu glauben, dass wir fair und wertschätzend benotet werden können. Wobei die eigentliche Utopie wäre es ja, wenn wir keine Noten mehr hätten.
Aber ich bitte sie, geschätztes Publikum, helfen Sie mir, zumindest an diesem Abend, meine Utopie lebendig zu machen. Alles was Sie tun müssen ist zuhören“, sagte sie mit ihrer wohlklingenden Stimme.
„Die Schule sollte doch Wissen vermitteln. Aber es geht nicht darum zu wissen. Schon lange nicht mehr, es geht darum ein „Genügend“ zu haben, nicht darum genügend zu wissen. Dadurch wird nur Stress und Druck vermittelt. Wann haben wir das zugelassen?
Ist Druck nicht etwas Gutes, wenn wir nicht lernen wollen? fragen sie sich vielleicht. Immerhin spornt er uns ja an.“
Sie räusperte sich, bevor sie fortsetzte.
„Was uns Spaß macht, uns interessiert, das lernen wir ganz von allein. Und das können wir dann. Was wir können, das nutzen wir. Was wir nutzen, das wollen wir machen. Und das was wir machen, wird unser Beruf. Und unser Beruf ist unsere Zukunft. Wenn wir dieser Logik folgen und jeder lernt, was er oder sie möchte, dann kann vielleicht nicht jedes Kind sagen, was die dritte Ableitung von f ist, aber jedes einzelne Kind wird Ihnen sagen, dass es glücklich ist, dass es zufrieden ist. Das es tun kann, was es will. Das ist nur eine Frage der Prioritäten.“
Sie atmete tief durch und ließ das Publikum kurz verdauen, was es auch hörte.
Das könnten Sie übrigens auch tun.
„Selbstverständlich ist eine allgemeine Bildung gut, da Jugendliche oft noch nicht wissen, was sie wirklich interessiert. Aber wir brauchen kein System, bei dem eine zukünftige Chirurgin an einer schlechten Bewertung in Spanisch scheitert. Diese Prioritäten sind falsch verteilt, weil den Kindern kaum etwas zugetraut wird. Denn, die sind ja faul und desinteressiert. Ich frage Sie, sind Sie faul und desinteressiert? Waren Sie es in der Schule?“
Sie winkte lächelnd ab.
„Manche vermutlich. Aber in jedem Fach? Wohl kaum. Sicherlich stimmen Sie mir zu, wenn wir den Druck des Scheiterns aus der Schule nehmen würden, dann würden wir alle viel mehr Freude dabei haben. Endlich würde wieder Wissen vermittelt werden. Die Schule hätte ihr Ziel vielleicht noch nicht erreicht, aber sie wäre ihm schon deutlich näher gekommen.“
Sie schien kurz nachzudenken.
Unser Protagonist wartete gebannt darauf, dass sie weiter sprach.
„Wann haben wir uns also einreden lassen, dass Noten unsere Intelligenz wiederspiegeln?
Wann haben wir zugelassen, dass Leistung zu unserem Antrieb wird?
Wann sind wir so geworden? Was hat uns so beeinflusst?“
Ihr Blick richtete sich auf den Mittelteil des Publikums.
„Wann haben wir gesagt, dass unsere Noten uns beschreiben?“
Sie hatte wider ihren wütenden, ernsten Klang in der Stimme.
„Wann haben wir uns eingestanden, dass ein „Sehr Gut“ das Ziel ist? Ich kann verstehen, dass wir gut sein wollen, dass wir wissen wollen und dass wir Anerkennung für unsere Leistung wollen.
Ich kann aber nicht verstehen warum in den Schulen dieser Druck herrscht. Ich kann nicht verstehen, wieso eine subjektive, unfaire und unvollständige Bewertung wie eine Note das Ziel sein kann.“
Nachdenklich sah sie sich um. Dann schien sie einen Entschluss gefasst zu haben.
„Das war aber niemals die eigentliche Frage. Die Frage ist doch, wie lange wir es noch zulassen, wie lange wir uns noch beeinflussen lassen. Wie lange dieser Druck noch herrscht. Wie lange bis Wissen unser Ziel ist?“
Sie straffte ihre Schultern und ging wieder über die Bühne.
„Vielleicht ist es eine Utopie. Ein Paradies.“
Sie zögerte und schien auf einen Gedanken zu kommen: „Noten sind Bewertungen, Bewertungen sind gefährlich. Unterricht ist vor langer Zeit zu Druck geworden, vielleicht war er das auch schon immer.
Wäre es nicht schön, wenn das Ziel des Unterrichts Wissen und Bildung wäre? Ich würde das für ein Paradies halten.
Nein.
Kein Paradies.
Es ist keine Utopie.
Das war es nie.“
„Hiermit wäre meine Geschichte zu Ende. Was denken Sie, hat sie Ihnen gefallen?“
„Durchaus, ja. Ich finde Sie haben das sehr schön erzählt.“
„Es freut mich, dass Sie mir zugehört haben. Sagen Sie, haben Sie Fragen?“
Ein Räuspern erklingt.
„Sie haben hier von Noten gesprochen, von Druck und Bewertung. Was ist nun Ihre Meinung dazu?“
Eine kurze Stille trat ein.
„Noten sind persönliche Bewertungen, die universell angewandt werden. Wie schon angeklungen ist, hängen Noten von sehr viel ab und können niemals fair miteinander verglichen werden. Da wir diesen Vergleich in unserer Gesellschaft aber brauchen, vergleichen wir Noten doch und versuchen dadurch auf den Menschen selbst zu schließen. Aber das funktioniert nicht. Nicht wirklich. Was wir brauchen ist ein Bewusstsein, ein Bewusstsein, das alle haben. Schüler_innen, Lehrer_innen, Arbeitgeber_innen, selbst der 90-jährige Sepp aus Sibratsgfäll. Ein Bewusstsein, dafür dass Noten relativ sind, dass sie uns niemals auch nur ansatzweise beschreiben können. Dafür, dass Vergleiche uns nicht gut tun. Noten beschreiben nicht einmal wirklich unser Wissen, es sind doch einfach nur Zahlen, willkürliche Zahlen. Aber bitte, wir sollten hier nicht verzweifeln, wir sollten es ändern, es besser machen und trotz allem lachen. Aber was sagen Sie?“