Freiwillig mutig sein
Was ist der europäische Freiwilligen*dienst? Wieso überhaupt freiwillig arbeiten? Wie ist es, ein Jahr in einem anderen europäischen Land zu leben? Wieso von daheim weggehen? Und wieso, wenn schon weggehen, in Europa bleiben? Was kostet das? Und was hat das alles mit Mut zu tun?
Am 1. September 2015 habe ich mich am Hauptbahnhof von meinen Eltern verabschiedet und bin in den Zug Richtung Rumänien gestiegen, um dort ein Jahr meines Lebens zu verbringen. Europäischer Freiwilligen*dienst nennt sich die Initiative der EU, welche mir dies ermöglichte: Hier ein Bericht.
So schnell wie möglich ganz weit weg?!
Während der gesamten achten Klasse und der stressigen Maturazeit wusste ich, dass ich eine Pause vom Bildungssystem brauchen würde. Ich wollte nicht weiter sitzen und grübeln, ich wollte den Fokus von meinem Hirn auf meine Hände umlegen und mal einfach machen, ohne vorher heatheorien zu lernen.
Ich wollte raus in die Welt. Weg von allen und allem Bekannten und der Vertrautheit. Einen Szenenwechsel.
Dass ich wegwollte, stand also fest, nur wie und wohin?
Google zeigt binnen Millisekunden die verlockendsten Angebote: exotische und abenteuerliche Projekte – so weit weg wie möglich. Dabei ist die Finanzierung aber oft der große und scheinbar einzige Haken. Diese ist auch der Grund, weshalb ich viele Programme ausschloss.
Ich bekam unterschiedliche Antworten auf meine Fragen nach dem Wie und Wo bei einer Info-Veranstaltung von Akzente Salzburg. Dort wurden Programme wie Work & Travel, Wwoofing, Au pair und der europäischer Freiwilligen*dienst erklärt.
Zwei Rückkehrer_innen, die erst vor Kurzem zurück nach Salzburg gekommen waren, berichteten von ihren* persönlichen Erlebnissen. Ich war sehr beeindruckt, als ich Fotos von einem Freiwilligen*dienst mit dem Schwerpunkt Straßenzirkus in Bulgarien sah. Rational überzeugten mich Kostenpunkt und organisatorischer Aufwand: beide sind bei einem EFD erträglich.
Meine Entscheidung stand fest: Ich wollte einen europäischen Freiwilligen*dienst machen.
Organisation und Kosten beim EFD
Um für ein Projekt ausgewählt zu werden, müssen Bewerbungsschreiben und Lebenslauf an die jeweilige Organisation gesendet werden Passen Bewerber_in und Organisation zueinander, wird meist zum Gespräch via Skype eingeladen, um Erwartungen beider Seiten zu besprechen. Ab diesem Moment zeigt sich, dass Beschönigungen im Lebenslauf unnötig sind: viel mehr als Sprachkenntnisse oder professionelle Erfahrungen zählt hier die ehrliche Begeisterung und Motivation.
Leistungen, auf die ein_e EFD-Freiwillige_r Anspruch hat:
Die Reisekosten werden zum Großteil übernommen (abhängig von den Entfernungen), Wohnort und das Pendeln zwischen Wohnung und Job wird ebenfalls gezahlt, genauso wie die Versicherung, außerdem gibt es Essens- und Taschengeld. Außerdem ist ein Sprachkurs inkludiert und ein_e Mentor_in steht vor allem anfangs für Fragen zur Verfügung.
Mein Projekt
Ich war eigentlich (wie immer) zu spät dran! Denn Bewerbungen sollten circa ein halbes Jahr vor Beginn des jeweiligen Projekts verschickt werden. Allerdings hatte ich Glück und auch keine super konkreten Vorstellungen: so fand ich ein spannendes Projekt in Cluj-Napoca, Rumänien (nur drei Wochen bevor es losging), wo ich ein Jahr lang in einem kleinen, unabhängigen Theater mithelfen konnte. Außerdem durfte ich bei einem Projekt von meiner Organisation teilnehmen, in dessen Rahmen ich und meine Kolleg_innen einmal die Woche in einer Volksschule waren, wo wir mit den Kindern spielten und gleichzeitig versuchten, Antidiskriminierungs- und Antirassismusprinzipien zu vermitteln.
Ich wohnte in einer WG mit fünf anderen Freiwilligen* aus Deutschland, Spanien und Finnland. Es mag so klingen, als wäre es gewagt, in ein unbekanntes Land in eine Wohnung mit unbekannten Menschen zu ziehen. Doch eigentlich war es einfach. Ich wurde schnell mit der Stadt und meinen Mitbewohner_innen vertraut und fühlte mich zuhause.
Selbstreflexion und Kritik
Während meines Jahres in Rumänien habe ich oft darüber nachgedacht, was die eigentlichen Beweggründe sind, einen Freiwilligen*dienst jeglicher Art zu machen. Neben dem „Endlich mal raus“-Gedanken mag noch der Wunsch, die Welt zu verbessern, mitschwingen. Dieser Anspruch muss jedoch kritisch beleuchtet werden:
Dem (oft unterbewussten) Denken, dass es möglich ist, als Europäer_in an einem anderen Ort, in einem Umfeld dessen Strukturen, Geschichte und Menschen man nicht kennt, etwas verändern zu können, liegt eine kolonialistische Haltung zugrunde. Es werden scheinbare „Probleme“ und erstrebenswerte Ziele von Außenstehenden bestimmt, welche so von der jeweiligen Community nicht gesehen werden und oft mehr zerstören, als sie aufbauen.
Dieses Prinzip wird als „white savior complex“ beschreiben. Ich halte es für unabdingbar, genau zu überlegen, wohin aus welchen Gründen gereist wird und welche Organisationen unterstützt werden, um nicht aktiv kolonialistisches Denken zu reproduzieren.
Nun finden sich auch in meinem Freiwilligen*dienst Aspekte wieder, die diesem Prinzip entsprechen, immerhin bin ich als weiße Westeuropäerin in das „arme“ Rumänien gegangen und habe dort „geholfen“.
Wenn man anstrebt eine benachteiligte Gruppe zu unterstützen ist es am wichtigsten auf diese Gruppe zu hören, ihre Bedürfnisse anzuerkennen, auch wenn diese von eigenen Erwartungen abweichen und somit eben nicht die bestehenden Machtstrukturen zu reproduzieren. Dieses Verhalten nennt sich auch „Allyship“.
Beispielsweise wurde meine Mithilfe vor Ort von Mitgliedern der jeweiligen Community koordiniert und geleitet.
Veränderung
Mein Leben hat sich durch diese Erfahrungen verändert.
Einerseits traue ich mir selbst mehr zu, da ich vieles ausprobieren konnte. Ich weiß wie es ist, die Initiative zu ergreifen oder ein eigenes Projekt zu starten (In meinem Fall: ein feministischer Buchklub mit meiner EFD-Kollegin und Freundin Amanda aus Finnland). Weil ich es schon gemacht habe, ist meine Hemmschwelle kleiner.
Andererseits verstehe ich, wie es ist, fremd zu sein, wie es ist, die Sprache nicht zu verstehen und dadurch ausgeschlossen zu sein, wie es ist, „Daheim“ zu vermissen. Und vor allem was Daheim für mich bedeutet.