The State of the Union
Wie ist die Lage der Europäischen Union? Wie hat sich der Breit ausgewirkt? Und was passiert da eigentlich in Frankreich? Ein Versuch, Antworten zu geben.
Eigentlich ist die „State of the Union Adress“ die Rede, die der (oder bald die) Präsident(in) der USA einmal im Jahr hält, um die aktuelle politische Situation des Landes zu beschreiben.
Seit einigen Jahrzehnten gibt es jedoch eine andere Union, die aber derzeit noch keine_n weit bekannte_n Repräsentant_in hat – nämlich die oft gescholtene Europäische. Um den_die Kommissionspräsident_in der EU bekannter zu machen, gibt es seit 2010 auch eine Rede zur Lage der Union, die jedoch (noch) nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt wie jene, die ein_e Präsident_in der Vereinigten Staaten im Kongress in Washington hält.
Die nächste Rede vom derzeitigen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird wie üblich im September im Europäischen Parlament in Brüssel gehalten werden, aber die Frage, wie denn der Stand der Union sei, jetzt, ein paar Wochen nach der Brexit-Abstimmung, ein paar Monate nach großen Protesten in Frankreich und ein Jahr nachdem Österreich und Deutschland das Dublin II-Abkommen kurzzeitig aussetzten, um vielen Menschen auf der Flucht eine sichere Einreise zu bieten, diese Frage ist auch heute schon aktuell. Wollen wir hier versuchen, der Antwort auf die Spur zu kommen, in dem wir zwei der genannten Länder analysieren.
So what about Brexit?
Großbritannien hat es also tatsächlich getan. Was viele nicht für möglich gehalten haben, nämlich, dass eine Volksabstimmung tatsächlich gegen einen Verbleib in der EU ausgeht, ist nun eingetreten und die regierenden britischen Konservativen müssen sich überlegen, wie sie ihren Geldgeber_innen aus der Wirtschaft weiterhin den großen wirtschaftlichen Apfelstrudel anbieten und im gleichen Zug den weißen Mittelständler_innen die Rosinen aus ihrem Stück rauspicken können, um den um ihren Wohlstand Besorgten ein Großbritannien ohne „unkontrollierte Migration“ und „europäische Bevormundungen“ zu präsentieren.
Neben den Konservativen, die recht schnell personelle Lösungen für inhaltliche Probleme gefunden zu haben scheinen, hat auch die sozialdemokratische Labour-Partei einen internen struggle. Dieser scheint aber zunächst größer als er wirklich ist, denn der seit knapp einem Jahr amtierende Sozialist und Gewerkschafter Jeremy Corbyn wird zwar von den sogenannten Blairites, also den eher rechten Abgeordneten, die noch die Politik von Tony Blair verfolgen möchten, mit einer soliden Mehrheit abgelehnt, die Basis der Partei aber, so zeigen viele Umfragen, steht zu 54 Prozent hinter dem 66-Jährigen. Eine Vorsitzwahl Anfang September wird auch dieses Kapitel wieder schließen und vielleicht jenes einer potentiellen Neuwahl des Parlamentes wieder öffnen.
In Großbritannien ist also nichts klar, nicht einmal der Austritt aus der Europäischen Union scheint zu 100% fix zu sein. Offensichtlich ist aber, dass viele Menschen auf der Insel nicht zufrieden sind mit ihrem Leben. Sie sehen traditionelle Arbeits- und Lebensweisen in Gefahr, durch das Fehlen sozialer Auffangnetze geraten viele Menschen in Armutsverhältnisse. Die große Verbreitung dieser sozialen Erfahrungen schürt die Existenzängste weiter und lässt viele Menschen nach der Pfeife von Rassist_innen wie Nigel Farage und seiner United Kingdom Independence Party tanzen.
Doch nur neoliberale Kürzungspolitk und die damit verbundene Wirtschaftskrise für steigenden Rassismus verantwortlich zu machen, wäre ebenfalls zu kurz gegriffen. Gerade die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien hat eine lange Rassismusgeschichte, die sich immer auch auf eine gewisse „Vormachtstellung“ in der Welt berief. Seit dem Eintritt bzw. der Gründung der Europäischen Union haben viele Staaten ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich erklärt – somit haben die Brit_innen nicht nur Teile der legislativen Selbständigkeit an die EU abgegeben, sondern auch an weltpolitischen Einfluss eingebüßt.
Zudem machte die EU-Skepsis vieler konservativer Tories es auch schwer, gemeinsam mit Deutschland und Frankreich eine Führungskraft innerhalb des europäischen Parlaments und des Rates zu sein.
Der Verlust von weltpolitischem Einfluss, sinkende Reallöhne, steigende Arbeitslosigkeit, fehlende Sozialhilfen, eine lange Geschichte von white supremacy und Rassismus befeuernde Buolevard-Blätter und Politiker_innen sind wohl die Gründe, warum die kontinentale EU schon lange nicht mehr sehr beliebt bei den Brit_innen ist.
Jusqu’ici, tout va bien…
„Beliebt“, das ist wohl auch nicht der Begriff, der den meisten Franzos_innen einfällt, wenn sie nach der EU befragt werden. Doch trotz der bekannten EU-Skepsis der französischen Bevölkerung, kommt diese in den politischen Debatten nicht so häufig vor, wie dies bereits der Fall war. Das liegt aber nicht daran, dass die EU ihr Image aufbessern konnte, sondern an der regierenden sozialistischen Partei, die mit neuen Arbeitsgesetzen, „die Wirtschaft liberalisieren möchte“.
Was heißt das genau? Mit dem sogenannten Loi travail sollen wichtige Gesetze geändert werden, die die maximale Arbeitszeit, gesetzliche Urlaubsregelungen und die Länge von Arbeitsverträgen betreffen. Weil diese Änderungen vor allem zum Nachteil der Arbeiter_innen ausgefallen wären, gab es von linken Parteien und von der Zivilgesellschaft große Proteste und einen der größten Streiks in der Geschichte Frankreichs. Die Zustände erinnerten teilweise an die Proteste gegen die repressiven Maßnahmen der Regierung im Jahr 1968. Doch während Frankreich damals am Rande einer linken Revolution stand und viele Fabriken und Universitäten schon von den Proletarier_innen und Student_innen selbstverwaltet wurden, konnte die jetzige Protestbewegung zwar Massen auf die Straßen bringen und viele Abänderungen der Gesetze erzwingen, einige wichtige Punkte, wie vor allem die Flexibilisierung von Arbeitsverträgen, die Arbeiter_innen viel Sicherheit nimmt, wurden von der Regierung durchgebracht.
Doch nicht nur die Gesetzestexte selbst sind und waren Bestandteil der Kritik der Protestierenden. Auch die Art, wie die Gesetze zustande kamen, ist in Frankreich heftig umstritten. Die Regierung hat nämlich den berüchtigten Verfassungsparagraph 49.3 aktiviert, der es ihr erlaubt, eine Abstimmung im Parlament zu überspringen und den Vorschlag direkt in den Senat zu bringen. Diese Praktik nannte der jetzige Staatspräsident François Hollande vor nur zwei Jahren noch „undemokratisch“.
In Frankreich stehen im nächsten Jahr noch dazu Präsident_innenschaftswahlen an, wo es mehrere Problemfelder gibt. Einerseits ist die Frage, ob Hollande es schaffen kann, die linken Wähler_innen bei seiner sozialistischen Partei zu halten, die von der neuen, liberalen Arbeitsmarktpolitik der Regierung enttäuscht sind und dem Parti socialiste massenhaft den Rücken kehren.
Das eröffnet Chancen für die weit rechts stehende Strache-Freundin Marine Le Pen, die, wie Nigel Farage in Großbritannien die weißen, frustrierten Mittelschichtswähler_innen mit ihrer rassistischen Propaganda abholt und somit dem Front National immer mehr Stimmen zukommen lässt.
Der Tochter des Parteigründers und Antisemiten Jean-Marie Le Pen werden gut Chancen eingeräumt, es ihrem Vater gleichzutun und in die Stichwahl um die Präsident_innschaft einzuziehen. Das liegt nicht nur an den fatalen Folgen der Wirtschaftskrise und der verfehlten Arbeitsmarktpolitk der Regierung, sondern auch an den Konservativen, die mit dem Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy wohl einen sehr unbeliebten Kandidaten aufstellen werden. Sarkozy ist außerdem noch immer in Korruptionsskandale verwickelt, die noch nicht gänzlich aufgeklärt sind.
Die Lage der Union oder die Lage der Nationen?
Wir sehen also, dass die Probleme führender EU-Länder zwar unterschiedlicher realpolitischer Natur sind, sehr wohl aber den gleichen Ursprung haben: die Menschen sind verunsichert, Arbeitsplätze sind prekär, Wohnungspreise steigen, soziale Auffangnetze werden löchriger und durch Immigrant_innen scheint neue Konkurrenz zu kommen. Gerade der letzte Punkt wird jedoch vor allem von rechten Politiker_innen und dem Boulevard ausgeschlachtet, um für ihr konservatives, patriarchales und vor allem weißes Gesellschaftsbild Propaganda zu betreiben.
Die EU als Institution müsste sich diesen Bestrebungen entgegensetzen, den Nationalstaaten eine sozialere Wirtschaftspolitik erlauben und nicht durch eine Verlängerung der Austeritätspolitik die Kürzung öffentlicher Sozialausgaben weiter forcieren. Zuletzt hat sogar der IWF erkannt, dass weitere Kürzungen wohl der falsche Weg wären.
Durch ein mehr an wirtschaftlichem Zusammenhalt könnten auch das eigensinnige, nationale Denken abgebaut werden, wodurch wieder mehr Zusammenarbeit in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Asylpolitik möglich wäre. Dann könnte auch wirklich von der Lage der Union gesprochen werden, denn derzeit sind es eher mehrere Lagen der Nationen.