19. September 2015
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Wo fängt „Mann“ an, wo hört „Mann“ auf, wo fängt „Frau“ an, wo hört „Frau“ auf?!

Mitte August habe ich mich ins tiefste Mühlviertel (Oberösterreich) begeben, um Alex Jürgen zu treffen, eine Inter*Person, die den Verein Intersexuelle Menschen Österreich (VIMÖ) mitgegründet hat. Nach der freudigen Begrüßung von Alex' drei kleinen Hunden und seinen Schafen starteten wir das Interview in Alex' Haus, mitten am Land.

Alex,was bedeutet Inter* überhaupt?
Intersexualität ist ein Begriff aus der Medizin, der Leute benennt, die nicht in das ‚Frau/Mann‘-Schema hineinpassen. Das kann auf verschiedenen Ebenen sein: es kann zum Beispiel passieren, dass die Chromosomen nicht eindeutig männlich oder weiblich sind. Es kann aber auch hormonell sein, was bedeutet, dass einfach andere Hormone produziert werden, als die, die man eigentlich als Frau oder Mann entwickelt. Ganz selten existiert Intersexualität auch auf körperlicher Ebene. Den wenigsten Menschen kennt man ihre Intersexualität gleich auf den ersten Blick an. Intersexualität passt einfach auf mehreren Ebenen nicht in unsere gesellschaftliche Norm mit Mann oder Frau hinein.

Warum hast du bzw. habt ihr den Verein VIMÖ gegründet?
Weil der Verein wichtig ist für andere Inter*personen. Es ist der größte Schritt zur Selbstfindung, wenn man andere Leute trifft, die auch so sind. So etwas braucht es einfach und da es in Österreich so etwas noch nicht gegeben hat, war das die Motivation für die Gründung der Vereins. Es muss einfach eine Adresse geben, wo sich die Betroffenen hinwenden können.

Was sind die Lösungsansätze für bestehende Probleme und Forderungen von VIMÖ?
Wir haben eine ziemlich lange Liste, aber um die wichtigsten zu nennen:
Als erstes muss Intersexualität aus dem Krankheitskatalog herausgenommen werden. Es ist keine Krankheit, sondern eine Variation der Natur. Infolgedessen müssen die Operationen und Geschlechtsnormierungen an kleinen Kindern endlich aufhören, nur weil sie äußerlich vielleicht anders aussehen. Es kommt nur wirklich äußerst selten vor, dass eine Intersex Person eine medizinische Behandlung wirklich benötigt, um keine gesundheitlichen Probleme zu bekommen.
Dazu gehört noch viel mehr Aufklärung betrieben: im Schulwesen, im Hebammenbereich, in jeglichen Berufsgruppen oder Ausbildungsgruppen.
Im Aufklärungsunterricht in der Grundschule gehören Mann und Frau einfach als zwei Extreme beschrieben, wo dazwischen jedoch noch einiges Platz hat.
Es gibt mehr als nur Mann und Frau. Neben Intersex*, wo man auf körperlicher Ebene weder Mann noch Frau ist, gibt es auch auf geistiger Ebene extrem viele unterschiedliche Identitäten. Es gibt zum Beispiel auch viele Frauen, die sich nicht weiblich fühlen, die aber körperlich nun mal Frauen sind. Wo fängt „Mann“ an, wo hört „Mann“ auf, wo fängt „Frau“ an, wo hört „Frau“ auf?! Man kennt ca. 4000 Abstufungen zwischen Frau und Mann, das ist wissenschaftlich erwiesen, das sagt schon einiges aus.

Könnten die Eltern zu den geschlechtsnormierenden Operationen „nein“ sagen?
Natürlich! Die Eltern haben das letzte Wort und wenn sie nein sagen, dann ist das so. Aber man muss sagen, dass mittlerweile nicht mehr so operiert wird wie früher. Viele Ärzt*innen trauen sich nach einigen Klagen in Deutschland gar nicht mehr und viele ältere Ärzt*innen, die diese Operationen immer durchgeführt haben, sind mittlerweile auch in Pension gegangen.
Heutzutage kommen immer neue Ärzt*innen, die oft schon umdenken. Es wird zwar schon besser, aber es passiert trotzdem noch oft genug.

Gibt es eine Möglichkeit diese Geschlechtsanpassungen später durchführen zu lassen?
Das kann man in jedem Alter machen, das ist ja kein Zwang. Man sollte Intersexkinder selbst entscheiden lassen, denn herausgeschnittene Hoden sind dann nunmal weg und Operationen hinterlassen Schäden: es gibt Narben oder Gefühlslosigkeit an manchen Stellen. Es gibt einfach ein Risiko, bei jeder Operation. Wieso tut man das jemandem an, wenn es doch gar nicht sein muss? Jeder soll ab einem gewissen Alter sagen können, ich will mir da jetzt etwas weg, oder auch dazu machen lassen, so dass dann jeder so sein kann wie er*sie will. Jeder soll ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Hast du das Gefühl, dass sich die generelle Situation für Inter*sex Personen verbessert, gerade in Zeiten von so vielen Toleranzbekundungen in den Medien?
Ich denk mir, dass sich generell mehr Intersex-Menschen trauen an die Öffentlichkeit zu gehen. Wenn auch nicht in Österreich, dann zumindest global. Es gibt eine riesige weltweite Aktivist*innencommunity, von Neuseeland bis Amerika, die sich weltweit oder europaweit mehrmals im Jahr trifft. Dort sind schon einige, die sich offen dazu bekennen.
Einerseits denkt man, man hat in dieser Gesellschaft mehr Platz, weil sich immer mehr Lebensformen sozusagen „in unsere Welt drängen“, ob sie es wollen oder nicht. Man hört derzeit viel von Trans*, Cis und ähnlichen Begriffen. Die Leute trauen sich auch einfach mehr. Doch andererseits habe ich auch das Gefühl, dass die Fronten der Gegenfraktion immer härter werden, wenn ich lese, was so auf Blogs geschrieben wird. Gender-Forscher werden oft direkt mit Aussagen wie „Schwule Sau“ und „Utopie, Zwitter gibt es nicht“ angegriffen. Ich sehe das ähnlich wie mit der Flüchtlingsfrage. Momentan solidarisieren sich auf der einen Seite einige Menschen während sich auf der anderen Seite die Leute bündeln, die rassistisch denken, Blödsinn posten und andere vom Gegenteil überzeugen versuchen.

Mit welchen Problemen hat man als Intersex-Person zu kämpfen?
Ja natürlich mit Operationen, die man sich nicht selbst ausgesucht hat, mit Identitätsfindungs-Problemen, weil man in unserer Gesellschaft ein Mädchen sein muss sobald man kein Bub ist, weil es in den Köpfen nicht mehr gibt.
Es gibt auch Probleme mit Mobbing. In der Schule zum Beispiel, wenn jemand etwas über deine Intersexualität herausfindet.
Wenn ich so darüber rede, weiß ich gar nicht wo ich anfangen und aufhören soll. Es fängt schon allein mit der Frage an, auf welches Klo man gehen soll, weil es in öffentlichen Gebäuden wie Schulen eben 2 getrennte Klos gibt. Ich persönlich finde das sinnlos, denn es macht ja keinen Unterschied in welches man geht, hinter beiden Türen befinden sich Toiletten; der einzige Unterschied sind die Pissoirs am Männerklo. Warum macht man nicht einfach einen großen Gang mit Toiletten und jeder kann dort rein gehen wo er* sie will?
Es gibt fast keinen Lebensbereich in unserer Gesellschaft in dem einem nicht bewusst wird, dass man nicht dazu gehört. Mache ich einen Handyvertrag will der Handy-Anbieter wissen, ob ich eine Frau oder ein Mann bin, das gleiche beim Abschließen einer Versicherung. Das geht bis hin zum Einloggen auf Internetseiten wie Facebook, sogar dort will man wissen: Bist du Mann oder Frau? Ich frage mich warum?

Für wen und in welcher Form bietet VIMÖ Hilfe an?
In erster Linie für Betroffene und deren Eltern. Sie können sich bei uns melden und andere Leute finden, ähnliche Geschichten hören und sich vernetzen. Das passiert bei regelmäßigen „Intersex-Treffen“, das letzte war vor kurzem in Linz.

Wie viele Leute sind dort und ist es schwer für Leute dort hin zu gehen?
Es ist generell schwer, dass überhaupt Leute kommen und es ist auch schwer für Leute, die äußerlich nicht „erkennbar“ sind. Mir kommt es teilweise so vor, als würden viele lieber nichts sagen, sich direkt verstecken und alles so lassen, wie es ist.
Es ist auch bestimmt mit Scham verbunden. Eine Bekannte holt sich ihre Hormone von ganz weit weg, weil ihr Hausarzt ja ihren Chef oder jemanden aus dem Umfeld kennen könnte, sie versteckt sich total. Viele andere haben auch Probleme mit Sexualität, Beziehung, mit dem eigenen Körper.

Was wäre eine Möglichkeit, mit dem Thema Intersex umzugehen?
Man muss Inter* als Variation der Natur sehen und anerkennen, dass es auch andere Lebensweisen gibt. Lehrpersonen in der Schule können ja auch, ohne mit der Wimper zu zucken, erzählen, dass Schnecken Zwitter sind und trotzdem hält es keine*r für nötig, die zu operieren.
Unser Geschlechterdenken engt uns ein erlegt uns sehr viel auf. Es kann nicht sein, dass es komisch ist, wenn eine Frau mit 40 noch nicht verheiratet ist und keine Kinder hat oder einen „unüblichen“ Beruf ausübt. Menschen urteilen über andere immer noch wegen solchen Dingen. Aber sollte nicht jeder Mensch geschlechtsunabhängig tun, was er*sie will?

 

Der Dokumentarfilm „Tintenfischalarm“ begleitet Alex durch verschieden Stationen seines Lebens:

Screenshot / YouTube Foto: Screenshot / YouTube