27. Oktober 2015
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Alternativschulkind? Ja! Dumm? Nein!

Warum ich in eine alternative Schule gehe und das dazu auch noch sehr gerne.

„Es ist eine sehr demokratische Schule mit viel Mitbestimmungsrecht, coolen LehrerInnen und SchülerInnen. Wir reisen sehr viel und haben tolle Unterrichtsstunden, die es sonst nicht gibt. Man fühlt sich einfach wohl“. Genau das habe ich vor 3 Jahren geschrieben, als ich wie viele andere nach meiner Meinung über meine Schule, die SchülerInnenschule in Wien, gefragt wurde. Wie ich heute darüber denke, darum geht es in diesem Text.

Dass es diesen Text überhaupt gibt, ist eine dieser für unsere Schule typischen Geschichten. Seit Beginn meiner Zeit hier fand ich echt toll, dass wir Schüler_innen keine klassischen Noten-Zeugnisse bekommen sondern am Ende jedes Schuljahres selbst eine Reflexion schreiben. Darüber, was wir gelernt haben und was nicht, was wir erlebt haben, was gut und weniger gut war. Gegen Ende des Schuljahres 2013/14 setzte ich mich hin, um diese Selbsteinschätzung zu schreiben, die bei uns alle „Zeugnis“ nennen. Mittendrin hatte ich aber überhaupt keine Lust mehr. Da mir das Jahr sowieso zu stressig war, beschloss ich, genau das auch kurz und knapp aufzuschreiben. Die Lehrer_innen waren davon aber überhaupt nicht überzeugt, im Gegenteil. Das Thema „Darlene und ihr Zeugnis“ wurde dann in einem Plenum – einem Treffen, bei dem sich alle aus der Schule zusammensetzen – diskutiert, und es wurde beschlossen, dass ich eine Ersatzarbeit schreiben sollte. Sie trug den Titel „Was ist Selbstbestimmtes Lernen“ und wurde zur Grundlage für diesen Text.

Kontrolle über das eigene Leben

Die Definition von selbstbestimmtem Lernen lautet: lernen wann, wo, mit wem und wie man will. Das Entscheidungsrecht der Anderen wird so weit wie möglich minimiert, es gilt der Grundsatz „nichts über uns ohne uns“. Du selbst bestimmst deinen eigenen Werdegang. Das gibt dir das Recht, dein Leben und deine Probleme selbst regeln zu können.

Selbstbestimmung bildet die Basis für unsere Freiheit und Unabhängigkeit, sie ermutigt Menschen ihre Möglichkeiten zu entdecken und auszubauen. Selbstbestimmung macht Menschen von Objekten der Fremdbestimmung und der Bevormundung zu Subjekten der eigenen Entscheidungen und der Zuständigkeit für ihr Leben. Selbstbestimmung heißt aber auch die Konsequenzen für sein_ihr Handeln übernehmen zu müssen – etwas, das ich selbst gerade noch lernen muss.

Selbstbestimmung darf aber nicht zu Überforderung führen. Deswegen muss es allen Menschen selbst überlassen werden, ob sie selbstbestimmt leben möchten oder nicht. Doch was ist die Alternative? Das ganze Leben von anderen bestimmen zu lassen? Auch nicht ganz das Wahre.

Nicht der Lehrplan definiert das Lernen

„Selbstbestimmung ist das, worum es im Leben überhaupt geht. Ohne sie kannst Du am Leben sein, aber Du würdest nicht leben, du würdest nur existieren.“ (Michael Kennedy und Lorin Lewin)

Der Begriff „Selbstbestimmtes Lernen“ kommt aus der Reformpädagogik. Er besagt, dass die Lernenden nicht einen durch Lehrpläne definierten Stoff vorgesetzt bekommen, sondern dass sie aufgrund ihrer individuellen Erfahrung selbst bestimmen, was sie lernen wollen.

Der Schuleinstieg war für mich nicht gerade leicht. Ich kam mit sechs Jahren in eine Regelschule, in der es anfangs vielleicht noch ganz gut funktionierte (vielleicht aber auch nicht, aus dieser Zeit habe ich das Meiste schon verdrängt). Nach einem halben Jahr etwa stellte ich mich morgens immer krank, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Da wurde meinen Eltern wohl klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Sie steckten mich also in eine alternative Schule und es war wunderbar. Endlich konnte ich mich frei ausleben, spielen und lernen, und das sogar freiwillig. Irgendwann passte es dann aber nicht mehr. Also in die nächste alternative Schule, solange, bis es dort – aus unterschiedlichen Gründen – auch nicht mehr funktionierte. Irgendwann passte es nirgendwo mehr. Mit elf Jahren kam ich schließlich in die SchülerInnenschule. Eine Schule, in der ich die Möglichkeit habe, selbst zu verändern was mich stört. Eine Schule, in der eine Elfjährige das Gefühl hat, genau so viel wert zu sein wie eine Lehrerin oder ein Lehrer, eine Schule, in der jede Stimme gleich viel gezählt wird, egal wer du bist. Hier sind alle gleich.

Wie gefährlich ist zu viel Selbstbestimmung?

Wie weit ist ein selbstbestimmtes Leben überhaupt gut für uns? Wenn jede_r alles selbst bestimmt, stürzt doch das ganze System zusammen, oder? Geht nicht alles zugrunde, wenn plötzlich alle tun und lassen was sie wollen? Nicht unbedingt, beziehungsweise: kommt ganz auf die Erziehung und auf die Bildung an.

In unserer Schule liegt der Schwerpunkt darauf, sozial und politisch erzogen und gebildet zu werden. Und daran glaube ich: Hätte jedes Kind und jede_r Jugendliche die Möglichkeit, in eine Schule zu gehen, die deine individuelle Persönlichkeit und dich mit all deinen Stärken und Schwächen, deinen Interessen und Neigungen fördert, könnte ein System möglich sein, in dem alle selbst entscheiden. Ich wünsche mir mehr Alternativschulen, in denen Jugendliche im Schulalltag mehr mitbestimmen können, wie bei uns. Kinder wollen lernen. Manchmal brauchen wir halt ein bisschen länger, aber Gras wächst ja auch nicht schneller, wenn ich daran ziehe. Gut Ding braucht Weile!

Ich möchte einfach selbst entscheiden, wann ich mir Wurzeln und Lineare Gleichungen anschaue. Heute habe ich beispielsweise Lust dazu. Und morgen? Da schaut die Welt wahrscheinlich schon wieder ganz anders aus. Ich bin noch nicht erwachsen, sondern ich stecke gerade mittendrin im Erwachsenwerden. Und ich möchte in meinem Weg-Finden unterstützt und nicht von irgendwelchen Lehrkräften runtergemacht werden, weil ich irgendwas noch immer nicht hundertprozentig kann.

Was weiß eine Schule schon über die wahren Bedürfnisse der Kinder? Was weiß eine Regelschule, die mich nicht als eigenes Individuum ansieht, sondern nur als ein Kind unter hunderten? „Hast du es verstanden? Gut! Hast du nicht? Dein Pech!“ Wir werden viel zu früh in eine Schule gesteckt, in der wir mit viel zu viel Lehrstoff bombardiert werden. In Regelschulen befüllt man uns mit Wissen, das bei einem Test abgefragt und dann gleich wieder vergessen wird. Das Bildungssystem verwechselt Quantität mit Qualität; es wird viel zu viel, viel zu schnell in uns hinein getrichtert, und das nennen wir dann „hohen Bildungsstandard“. Weiß jemand von euch vielleicht, zu welcher Wortgruppe das Wort „manche“ gehört? Es gehört zur Gruppe der Pronomen, und auch 80 Prozent aller Germanistik Studierenden in Deutschland wissen das nicht, aber Hauptsache, es ist Stoff der 8. Schulstufe.

Der Name Schüler_innenschule

Würdest du eine Schule planen, wen würdest du fragen, wie der Alltag dort auszuschauen hat? Pädagog_innen, Entwicklungspsycholog_innen, Lerntheoretiker_innen und so weiter vermutlich. Wie lange würde es dauern, bis du auch die Kinder mit einbeziehst? In unserer Schule werden wir als erstes gefragt, denn um uns geht es ja! Daher trägt sie auch den Name „SchülerInnenschule“. Weil es um die Kinder und Jugendlichen geht.

Doch ist eine Alternativschule generell gut für Kinder und Jugendliche? Ist es eine gute Idee, sie selbst bestimmen zu lassen? Oder brauchen junge Menschen, im Gegenteil, eher mehr Disziplin? Kinder in dem Alter, in dem sie Grenze austesten, sich selbst Regeln ausdenken zu lassen, ist das richtig? Bei uns funktioniert es jedenfalls. Viele setzten „Alternativschule“ ja mit „Chaos“ gleich, aber so ist es nun mal nicht. Wir besprechen zu Beginn des Jahres, welche Regeln uns wichtig sind, etwa die Stopp-Regel. Wann immer uns etwas außerhalb des Unterrichts zu viel wird, können wir „Stopp“ sagen, und die Person, zu der ich „Stopp“ sage, muss aufhören, niemand darf deine persönlichen Grenzen übertreten. Wenn uns gewisse Regeln aber stören, weil sie zu streng oder zu locker sind, können wir sie im Plenum natürlich auch wieder ändern. Ich erinnere mich an lange Diskussionen weil wir Kinder und Jugendlichen uns gewünscht haben, dass die Lehrerinnen und Lehrer konsequenter beim Handyabnehmen sind, wenn wir in der Stunde damit spielen oder das es nur noch Brot und Butter geben soll damit wir den Lebensmittelverbrauch reduzieren.

Die Angst, dass Kinder in Alternativschulen nichts lernen, gab es immer schon, und sie wird vermutlich auch immer da sein. Sehe ich mir aber unsere „Ehemaligen“ an, bin ich immer wieder stolz, auch eine Jugendliche der „Wuk-Schule“ zu sein. Vielleicht kann ich die Wurzel aus 21 mal (33+4111) nicht im Kopf ziehen und vielleicht habe ich nicht alle Gedichte von Goethe gelesen, aber ich kann frei reden und ich kann soziale Kontakte knüpfen. Ich kann auf Menschen zugehen und mit ihnen frei über irgendein Thema diskutieren.

Unsere Lehrer_innen verlangen nicht, dass wir etwas auswendig lernen – sie helfen uns, es zu verstehen. Sie befüllen uns nicht mit Wissen, das irgendein Lehrplan als unbedingt notwendig vorsieht, doch was soziale Kompetenz, selbstständiges Lernen und vor allem Selbstbestimmung angeht, da verlangen sie einiges von uns. Mensch ist schließlich so viel mehr als nur sein Notendurchschnitt.

schuelerinnenschule.at Foto: schuelerinnenschule.at